Plastiken 2001-20

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Dr. Tina Simon

Die Bronzeplastiken von Andreas Grahl – in neue Formen gegossene Behauptungen zu einem flexiblen Werkstoff und seiner bewegten Geschichte (Auszug)

Den Skulpturen von Andreas Grahl ist beides anzusehen: die große Faszination der Figur als Zeugnis vergangener Kulturen samt ihrer unerklärlichen, geheimnis- und würdevollen Aura – und andererseits das inspirierte Spiel mit den gegenwärtigen Möglichkeiten, die Material und Fertigungsverfahren dem Künstler heute bieten.

Die museal präsentierten, traditionellen Bronze-Skulpturen sind unserer rational geschulten Wahrnehmung fremd, da das Sichtbare die tiefere Bedeutung und Notwendigkeit kaum erkennen lässt. Auf Sockeln oder in Vitrinen sind die Werke amputiert von ihren Entstehungszusammenhängen. Der rituelle oder kulturelle Hintergrund, der den Figuren aufgegeben wurde, wird nur selten mitgedacht und ist oft gänzlich verloren gegangen. Die Notwendigkeit, das angeschaute Fremde zu kompensieren, ruft dann vielmehr exotische Vorstellungen auf den Plan. Die Reaktion auf das anziehende Fremde oder sonderbar Rätselhafte ist die Verklärung zu einer phantastischen Gegenwelt.

Die Distanz zum Unbekannten, die fantasiebeladene Vorstellung dazu und die konkret gegenwärtige Lebenserfahrung bilden das inhaltliche Spannungsfeld, in dem die Bronze-Skulpturen von Andreas Grahl zur ihrer Wirkung kommen. Um sie dem Betrachter begreifbarer zu machen und ihm die Dimension ihrer Geltung vorzustellen, können einige Zusammenhänge aus der Geschichte der Bronzeplastik hilfreich sein.

In der italienischen Renaissance lagen Kunst und wissenschaftliche Welterklärung noch nah beieinander. So fanden die Gedanken zur Neuordnung der Welt ihren Ausdruck u. a. in Bildern, Objekten und Plastiken in den Studierzimmern der Gelehrten jener Zeit. Sie wurden zum Brennpunkt der Wissenschaft und Treffpunkt für Visionäre. Als Darstellung der Fortschrittsgedanken und als Anschauungsmaterial zu den Ideen der Antike waren Bronzestatuetten bei Forschern und deren Förderern so beliebt wie hoch wertgeschätzt.

Die Kleinplastiken, ihre Formfindung unter technischen Unzulänglichkeiten, ihre Repräsentation bzw. Bildmagie als Fortschrittsideen und ihre skulpturale Serienproduktion sind für die Arbeiten von Andreas Grahl wichtige Merkmale mit Anschlusspotenzial. Die antiken bzw. mythologischen Figuren sind Begleiter und Formgeber, aber keine Vorbilder.

Der gegenständliche Ausgangspunkt von Grahls Plastiken sind Ready-mades banaler Natur.

Zunächst sind es Kinder-Steckfiguren. Diese kleinen Kunststoff-Objekte sind erkennbar aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt. So auch die Bronze-Figuren von Grahl, und so verweisen sie auf den Prozess ihrer Entstehung. Die formale Vorlage des Stecksystems ist international bekannt und beruht auf dem einfachen Prinzip, dass vorgefertigte Einzelteile über haltbare Steckverbindungen zusammengefügt ein definiertes Ganzes ergeben können- oder über verschiedene Varianten der Fügung alternative, abwegige Möglichkeiten der Figurenbildung bieten.

Dieses Prinzip und die daraus entstehenden Figuren sind bis zum Kult-Status weltweit bekannt. Es assoziiert Kindheit und Kreativität und suggeriert gleichzeitig den Gedanken an einen selbst geschöpften Gegenstand. Und: mit wenigen Handgriffen lässt sich aus der richtigen Figur ein aufregend falsches Geschöpf kreieren und mit der Lust am Gegenarbeiten wächst die Fantasie. Im weitesten Sinne greift Grahl damit auf ein Modulsystem mit hoher Flexibilität zurück – ideal als Ausgangsmaterial für künstlerische Arbeit.  Zugleich greift er jedoch noch viel weiter zurück, denn dieses System hat – vielleicht überraschend – eine enge Verwandtschaft zum historischen Herstellungsprozess von Bronzefiguren. In der Renaissance führte die große Nachfrage an antiken Figuren zu einem Verfahren, das es ermöglichte, mehrere Abgüsse von einem Modell herzustellen – erstmals nachweisbar bei Pier Jacopo Alari-Bonacolsi, genannt Antico, in Mantua ca. 14801. Bei diesem Verfahren wird das Ton-Modell in mehrere Einzelteile zerlegt und abgeformt. Mit den entstandenen Negativen wurden viele Wachspositivteile hergestellt, wieder zusammengefügt und dann in Bronze gegossen.

Wichtiger Anknüpfungspunkt für Grahls Arbeitsweise ist der Renaissancekünstler Severo da Ravenna (1496–1538?). Er nutzte dieses Verfahren, um durch Kombination der Einzelteile seiner verschiedenen Grundmodelle wiederum neue »Originale« zu kreieren. Dabei ging er von fünf oder sechs Grundmodellen aus, z. B. von einem knienden Satyr. Wenn er die Figuren in Teilen abformte, brachte er diese vor dem Gießen nicht wieder in ihre entsprechende Grundform zurück, sondern setzte z. B. die Arme des zweiten Modells auf den Rumpf des dritten und gab ihm die Attribute des vierten in die Hand2. Donatello (ca.1386–1466) nutzte sein mehrteiliges Gussverfahren übrigens in pragmatischerer Weise: Es ist bekannt, dass er die Figur »Johannes der Täufer« in Siena in drei Teilen anliefern ließ. Seine Geschäftserfahrungen hatten ihn Vorsicht gelehrt: Bis er die vereinbarte Summe erhalten hatte, behielt er den rechten Arm des Heiligen ein, mit der Konsequenz, dass der Arm der Figur später stümperhaft und in falschem Winkel angebracht wurde3.

Neben der Adaption des Herstellungsverfahrens greift Grahl auch bei der Auffassung des Materials zu historischen Vorgaben, die er behutsam erweitert. Bronze besitzt den Glanz der Sonne und den Charakter des Göttlichen – Erhabenheit und Artefakt. Beim Guss wird Materie – Wachs in Bronze – umgewandelt und somit gleichsam ein Schöpfungsakt vollzogen4 .

Durch den Einsatz des ältesten Werkstoffs Bronze ist nicht nur eine große Freiheit der Formgebung und Modellierung gegeben, auch die Behauptung der Werthaltigkeit und die Manifestation von Weltsicht in Bronzefiguren sind in Grahls zeitgenössischen Werken präsent.

Es ist kein Kuriositäten-Kabinett. Grahl stellt Fragen und hohe Ansprüche an das Sehen und Erkennen sinnwidriger Zustände. Er behauptet das Unvorstellbare als möglich und kann sich auf das Vertrauen in das eherne Material verlassen. Die bewusste Aufhebung der Entwicklung zur schönen Vollendung, wie sie der Bronzeplastik doch eigen sein sollte, ist einerseits Attitüde der modernen Kunst. Bei Grahl manifestiert und veredelt der glänzende Stoff die Willkür des individuellen Eingriffs. Während dieser losen Serie das Modularprinzip in der Formgebung als verbindendes Element zugrunde liegt, ist in der neuen Werkgruppe die Wandlung des Materialcharakters sinnstiftendes Verfahren.

Gegenständliches Vorbild sind hier Aufblasfiguren, wie sie als Hüpftiere bekannt sind. Auch hier ist der Zugriff auf ein Ready-made in seiner Funktionseigenschaft begründet: Vervollkommnung erreichen die Spielzeuge im prall aufgeblasenen Zustand. Auch hier unterläuft Grahl die Erwartung und findet eine Formensprache, die der richtigen Ausführung und Anwendung entgegenläuft.

Die im Vorbild flexible und leichte Kunststoff-Hülle mit der glatten Oberfläche zeigt Grahl im faltigen, eingefallenen Zustand und in der starren, gewichtigen Hülle aus Bronze. Die Wandlung in das Gegenteil funktioniert, indem die Entstehung des Objektes auf halbem Wege angehalten und in Edelmetall eingefroren wird. Einfache, verbindliche Gestalten wie ein »Esel«, das Flugzeug »spitfire«, »Duck« und der »Dragon« sind im deformierten Zustand schwerer zu erkennen. Mit zusätzlicher Fragmentierung durch mutwillige Öffnungen der Außenhaut der Figuren zeigt Grahl die Beschaffenheit der seiner Objekte von innen, was bei der Erwartung an eine Bronze-Figur fast wie eine Indiskretion oder gar Entweihung wirkt. Zusätzlich sind diese Fehlstellen lesbar als zeitlicher Vorausgriff auf den Prozess der Vergänglichkeit, der impliziten Auflösung. Grahl wirkt damit dem Ewigkeits-Dogma des Mediums entgegen.

Warum diese Deformierung, Umkehrung und Verfremdung? Grahls Verfahren der (Um-)Formung und das explizite Motiv, nicht regelrecht sondern regelwidrig zu agieren, verschieben die Wirkung der Figuren von Statement zum Vorschlag.

Die Erhabenheit der Bronze überträgt sich nicht nur auf die künstlerische Weihe, nicht nur auf die Wertschätzung des beherrschten Materials sondern auch auf den Regelverstoß und beglaubigt das scheinbar Unmögliche. Über das Spiel mit dem Absurden hinaus und mehr als der Widerstand gegen die Inhalt-und-Form-Dialektik ist das Werk von Andreas Grahl geeignet, dem Werkstoff eine Geltungserweiterung zu erschließen. Die Handhabung des Werkstoffes adelt die Endgültigkeit des Unfertigen und Unmöglichen in Grahls künstlerischem Werk. Diese einzigartigen Objekte sind geeignet, die Fragen nach Anfang und Ende, Perfektion und Störung, Vollendung und Brechung immer neu zu stellen und zeitgemäße, vorläufige Antworten vorzulegen.

»So wie die Rezeption der Antike in der Renaissance den Blick auf die eigene Welt schärfte, stellen meine Plastiken eine Möglichkeit dar, neue Sichtweisen auszulösen und die Alltagsperspektive für einen utopisch-visionären Moment außer Kraft zu setzen.«

 

 

1Adalbert Offermann, Zur Technik und Verschönerung der Bronze. In: Die Beschwörung des Kosmos- Europäische Bronzen der Renaissance, Wilhelm Lehmbruck Museum, 1994

2Patrick M. de Winter, Incorporating Notes on the Sculptor Severo da Ravenna. In: The Bulletin of The Cleveland Museum of Art, Volume 73, number 3, March 1986

3Donatello, Arthaus, DVD, 2008

4Volker Krahn, Bronzen als Sammel- und Studienobjekte. In: Von allen Seiten schön, Staatliche Museen zu Berlin -Preußischer Kulturbesitz, Verlag, 1995